Freitag, 19. April 2013

Aufreger der Woche

Gestern hat eine Bekannte auf Facebook einen Link zu einem Artikel gepostet, in dem erklärt wird, dass AD(H)S eine erfundene Krankheit ist.
Hier ist der Link zu dem Artikel, falls ihn jemand lesen will: http://info.kopp-verlag.de/hintergruende/deutschland/eva-herman/ritalin-wie-die-pharmaindustrie-unsere-kinder-vorsaetzlich-zerstoert.html

Ich habe übrigens gesehen, dass dieser Artikel von Eva Hermann verfasst wurde. Kein Wunder, dass da nur Schrott drin steht.
Im ersten Absatz steht folgendes: "Es klingt wie die furchterregende Geschichte aus einem Horrorthriller: Ein weltweit angesehener US-Kinderpsychiater probiert in den sechziger Jahren an seinen lebhaften Patienten verschiedene Psychopharmaka aus, um die Kleinen ruhig zu stellen. Als er eine entsprechende Pille entdeckt, mit der die Kinder gefügig gemacht werden können, erhebt er im Namen der Weltgesundheitsorganisation die kindliche Lebhaftigkeit zu einer neuen  Krankheit. Und fertig ist eine äußerst lukrative, für wachsenden Gehirne jedoch hochgefährliche  Einnahmequelle der global arbeitenden Pharma- und Ärzteindustrie. Millionen Kinder auf der ganzen Welt schlucken seit Jahrzehnten Ritalin, weil sie angeblich ADHS haben."

Ich bin Mutter eines ADS-Kindes. Und irgendwie habe ich das Bedürfnis, mich diesbezüglich mitzuteilen. Ich will mich nicht rechtfertigen, aber ich will erklären, wie es denn wirklich ist, mit einem ADS-Kind zu leben.
 Die Kommentare auf Facebook zu diesem Artikel waren für mich als Betroffene sehr heftig. "Ärzte wegsperren und den Eltern beibringen, wie man sich mit Kindern beschäftigt!", "Ich wusste ja schon immer, dass es ADHS gar nicht gibt." , "Ich kenne ADHS-Kinder. Für mich ist dieser Artikel absolut korrekt."
Mein Kommentar war nur, dass diese Menschen doch bitte erstmal mit einem ADS-Kind LEBEN sollen, sich ein paar Jahre mit diesem Thema beschäftigen sollten, und sich dann nochmal mit mir unterhalten.
Aber das wird keiner tun. Das finde ich sehr traurig. Denn gerade die Aufklärung der betroffenen Eltern und Kinder ist so wichtig! Überall liest man Berichte, was man gegen ADS tun könnte, auch ohne Tabletten. Wie das Leben doch einfacher wird, auch ohne Tabletten.
Aber werden auch mal Artikel von Betroffenen veröffentlicht? Kaum.
Ich beschäftige mich seit Jahren mit diesem Thema. Ich lese alles, was es darüber zu lesen und zu lernen gibt.

Ich sah vor einigen Monaten einen Bericht beim WDR oder BR. Es wurden 3 ADS-Kinder mit ihren Eltern über längere Zeit beobachtet, und Wege aufgezeigt, wie es denn auch ohne Tabletten geht.
Dazu muss man aber wissen, dass ADS-Kind nicht ADS-Kind ist. Jedes Kind reagiert anders.
Und wenn ich dann sehen muss, dass die erste Familie ihr Kind in ein spezielles Internat für ADS-Kinder schickt, dass fast 1000 EUR im Monat kostet, dann frage ich mich, ob das eine gute Lösung für jederman ist. Wir haben keine 1000 EUR im Monat!
Bei der 2. Familie blieb der Vater ganztags zu Hause und arbeitete von dort aus.
Ich kann ja mal in der Firma meines Mannes nachfragen, ob er seine Fliesen zukünftig von zu Hause bei der Kundschaft legen kann....
Die 3. Familie schickt ihr Kind in die Ergo-Therapie. Ganz ehrlich ist mir bei diesem Kind aber auch nichts aufgefallen, was auf ADS hindeutet...
Ich urteile nicht über die Methoden!!! Die sind alle gut und richtig. Aber wie soll das für eine "normale" Familie funktionieren? Von "normalen" Familien werden keine Berichte gezeigt.
Das soll auch keine Rechtfertigung sein, dass wir unserem Kind Tabletten geben. Aber wenn es nicht anders geht?

Unsere Odyssee begann im Jahre 2006.
3 Tage nach der Einschulung sprach uns die Schule an. Ich habe dieses Gespräch schon erwartet.
Es begannen Monate mit Gesprächen bei Sozialen Diensten, Psychologische Beratungsstellen, Eltern-Training, Gespräche bei Ärzten und Psychologen. Ein Klinik-Aufenthalt von fast 6 Wochen.
Dann wurde ADS festgestellt.
Es ist also mitnichten so, dass immer gleich der Rezeptblock gezückt wird.
Und es ist auch nicht so, dass uns die Schule beim ersten Auffallen von Sohnemann gesagt hat: "Ihr Sohn hat ADS. Geben Sie ihm Tabletten!" So wird es nämlich von Frau Hermann in dem Artikel beschrieben.
Es geht überhaupt nicht so schnell. Unser Sohn wurde 2 Jahre untersucht, von innen nach außen gedreht,usw. Erst dann gab es eine Diagnose.
Was in dieser Zeit aber bei uns zu Hause und in der Schule los war, will auch keiner wissen.

An alle Mütter da draussen:
Könnt ihr Euch vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn Euer Kind vor den Hausaufgaben sitzt, herzzerreißend weint und sagt: "Mama, ich will ja denken, aber mein Kopf kann nicht!" Und das stundenlang, jeden Tag, über Wochen, Monate, Jahre.
Er saß da, hat geheult, war wütend auf sein Gehirn, wurde aggressiv sich selbst gegenüber, schrie aus Leibeskräften, dass doch der blöde Kopf endlich so funktionieren soll, wie er es denn gerne möchte.
Habt Ihr jemals so ein Kind gesehen? Könnt Ihr Euch vorstellen, wie es ist, mit diesem Kind zu leben?
Genau das kann keiner. Und kaum jemand macht sich die Mühe, es mal zu hinterfragen, was bei einer ADS-Familie hinter geschlossenen Türen wohl los ist.

Ein weiterer Punkt, den Frau Hermann in ihrem Artikel anspricht, sind die fürchterlichen Famillienverhältnisse, die in jeder ADS-Familie zu finden sind.
Wir als ADS-Familie sagen dazu folgendes:
Wir sind seit 10 Jahren zusammen und sind seit über 6 Jahren glücklich verheiratet; wir trinken keinen Alkohol; wir nehmen keine Drogen; wir haben keine finanziellen Probleme; wir diskutieren jedes Problem in Ruhe aus; wir beziehen immer die Kinder mit ein, wenn es etwas zu besprechen gibt; wir behandeln beide Kinder gleich; wir ernähren uns (meist) gesund; wir haben ein intaktes familiäres Umfeld (keine Großeltern sind geschieden); wir haben einen stabilen Freundeskreis; wir beschäftigen uns viel mit den Kindern.
(Und ja, wir haben bunte Haare, sind gepierct und tättoviert.)
Falls jetzt jemand einzuwenden hat, dass ich vor 15 Monaten zu Hause ausgezogen bin, und ich eine Krankheit habe, die mich in vielen Dingen bremst, dem sage ich, dass das ADS schon 2006 aufgefallen ist. Zu diesem Zeitpunkt ging es mir noch blendend. Das ist also kein Argument. Und das ADS ist in den letzten Jahren deswegen auch nicht besser oder schlechter geworden.
(Ich habe eine Freundin, die auch schwer krank ist, glücklich verheiratet usw. Ihr Sohn ist ein 1er-Schüler und weist keinerlei Anzeichen von ADS auf.)
Ich habe hier schon öfter geschrieben, was zu Hause bei uns los ist. Wie unser Sohn durch das ADS ist, was es mit ihm macht. Wenn es wirklich an den familiären Verhältnissen liegen würde, dann hätten wir bei unserer Tochter doch die gleichen Probleme, oder? Aber dies ist nicht der Fall.

ADS ist für ein Kind schrecklich und für die Familie noch viel schrecklicher. Man will seinem Kind helfen, und kann es aus eigener Hand nicht. Es bleiben uns nur die Tabletten. Unser Sohn ist dankbar, wenn er sie nehmen kann. Er ist nicht süchtig, weder psychisch noch physisch. Es gibt auch Tage, an denen er keine nimmt. Aber damit fängt das Unerträgliche für ihn an. Er kann nichts tun, weil er sich nicht konzentrieren kann. Der Kopf will wieder nicht so, wie er gerne möchte. Er redet dann ohne Unterbrechung Stunden durch. Keine Unterhaltungen, sondern er erzählt und erzählt. Zusammenhanglos, ohne Unterlass. Und er kann nicht aufhören. Das widerrum macht ihn selbst aggressiv, weil es ihn nervt.
Und wenn er aggressiv wird, dann ist es meist schon zu spät. Dann ist überhaupt kein Herankommen an ihn mehr möglich. Dann fliegen Türen, Möbel, Hefte, Bücher, Spielzeug, er geht auf seine Schwester oder Freunde los.
Er macht das nicht aus Spaß! Er kommt mit dem Chaos in seinem Kopf einfach nicht klar. Er dreht wirklich durch.
Und ist es dann wirklich so eine große Schande, wenn ich meinem Kind aus dieser Qual helfen will?
Ich bin auch nicht von den Tabletten begeistert, denn die Langzeitwirkung ist noch nicht richtig erforscht. Und wenn es eine andere Alternative gäbe, dann bin ich sofort bereit, diese auszuprobieren. Aber momentan ist es einfach so, dass ich meinem Kind das Leben erleichtern will.
Der Gedanke an unsere Leistungsgesellschaft wird nun laut. Dazu muss ich sagen, dass diese Tabletten bei ADS nicht zur Leistungsförderung beitragen. Mein Sohn ist durch die Tabletten auch nicht schlauer geworden. Er kann nur jetzt einbringen, was er wirklich kann. Ohne Tabletten geht dies eben nicht.
Bei Personen, die kein ADS haben und diese Tabletten nehmen, bei diesen Menschen helfen sie entweder gar nicht, oder sie wirken leistungsfördernd. Daher fallen sie auch unter das Betäubungsmittelgesetz.
Laut Frau Hermann in einer Reihe mit Kokain und anderen leistungsfördernden Substanzen.

Ich könnte jetzt nun noch tiefer in die Wissenschaft eintauchen und erklären, was es denn für Tests gibt, bei denen Gehirne von Betroffenen ADS-Personen genau untersucht worden sind. Da fallen dann Worte wie EEG, MRT, CT, Enzyme,Glukose, Mangelerscheinungen, ect.
Das erspare ich mir hiermit. Und auch Euch.
Das wird zu klinisch.
Was aber noch sehr wichtig ist: unser Sohn wird alle 3 Monate gründlich in einer Klinik untersucht, alle 6 Monate wird ein großes Blutbild gemacht. Und es ist alles im grünen Bereich. Er ist wohlauf und gesund.

Wir haben wirklich alles versucht, und unser Sohn auch. Er ist sehr gerne bereit, etwas gegen sein ADS zu unternehmen. Er geht zur Therapie, redet mit Psychologen in der Schule, geht zum Konzentrationstraining, geht zur Hausaufgabenbetreuung, sucht mit uns und den Lehrern Wege, wie es denn besser werden könnte.
Wir alle erkennen, dass er selbst auch viel ändern möchte.
Nur lässt das ADS genau das nicht zu.
Wer glaubt, dass diese Tabletten aus unserem Sohn ein Musterkind machen, der ist immernoch auf dem Holzweg. Das habe ich schon oft genug geschrieben, was bei uns zu Hause alles passiert, auch mit Tabletten. Wobei es meist so ist, dass er nach der Schule noch mit Ach und Krach seine Hausaufgaben erledigen kann, dann wirkt die Tablette auch nicht mehr. Und wir werfen keine nach! Es ist also auch für uns Eltern nicht die einfache Lösung TABLETTE REIN UND RUHIG.
Das haben wir nie unterstützt.

Er wird nie ein "normales", ruhiges und einfaches Leben führen können, solange er mit ADS zu kämpfen hat. Es wird ihn Tag für Tag quälen und beschäftigen. Auch mit Tabletten.
Denn diese Tabletten sorgen nur dafür, dass mal für ein paar Stunden etwas weniger Chaos im Kopf herrscht. Wirklich weg ist es nie.
Es ist nicht wirklich zu vergleichen, aber bei einer Depression ist auch Chaos im Kopf. Oder eben totale Leere. Eine Depression kann einen Menschen in den Selbstmord treiben. Soll man hier jetzt auch einfach sagen, dass die Betroffenen bitte ihr Leben auf die Reihe kriegen sollen? Geht in eine Therapie und alles wird gut? Stellt euch nicht so an, reißt euch zusammen?
Nein. Das tut auch keiner. Diese Krankheit wird anerkannt. Und ich bin froh darüber.
Und wenn jemand Antidepressiva nimmt, damit es ihm nur ein bisschen besser geht, darüber wird nicht geurteilt. Das wird bejaht und gefördert. Auch von mir.
Warum nicht auch bei ADS? Wenn ADS nicht behandelt wird, kann daraus auch eine Depression entstehen. Also darf ich meinem Kind nun Antidepressiva geben, aber Ritalin nicht?
Doppelmoral.

Ich schreibe hier viele Dinge, die nur uns persönlich betreffen. Wie es in anderen Schulen, Familien und bei vielen Ärzten aussieht, das weiß ich nicht. Sicher gibt es Menschen, die zu schnell zu einer Diagnose gelangen. Das finde ich auch nicht gut.
Wir haben Erfahrungen gemacht, die uns weitergebracht haben, genauso wie sie uns zurück geworfen haben.
Unser Leben ist nicht einfacher geworden. Aber für ein paar Stunden am Tag kann ich das Leben meines Sohnes einfacher machen.
Wer selbst Kinder hat, müsste das eigentlich nachvollziehen können.
Wenn nicht, dann hört wenigstens auf, über etwas zu urteilen, was ihr gar nicht wissen könnt. Denn nur, wenn im Bekanntenkreis ein ADS-Kind ist, dann LEBT es nicht bei euch.
Was hinter verschlossenen Türen passiert, das erzählt euch nicht mal die allerbeste Freundin. Auch wenn ihr das glaubt.

Habt Verständnis, fragt nach, beschäftigt euch mit dem Thema. Erst dann könnt ihr euch ein Urteil erlauben. Das ist meine große Bitte.

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